wood ’n’ stones

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Unterwegs am Bosporus Geschichten aus Istanbul

Spielschulden

Wie jeden Montag Abend spiele ich wieder mit der Erasmus-Mannschaft gegen das türkische Team. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, es ist sehr heiß und die Kondition lässt bei allen mit der Zeit nach. Nach einer Stunde Kicken geht es unter die Duschen. „Hurry up“, ruft Eralp, „food is waiting!“ Letzte Woche hatten wir wohl ausgemacht, dass der Verlierer einen ausgeben muss. Und so stehen direkt neben dem Fußballkäfig zwei Riesenschachteln Baklava auf der Bank. Wir sitzen erschöpft zusammen und genießen den Zucker.


Liveübertragung

„You wanna be in an Italian TV show?“, fragt mich Giovanni beim Biertrinken nach einem Strandtag in Fethiye. Er hat sich vor seinem Abflug nach Istanbul im Februar beim populären italienischen Fernseh- und Hörfunksender RTL 102.5 gemeldet, der in der Sendung „Brains abroad“ Italiener im Ausland interviewt. Heute Nacht ist also wieder eine Folge und Giovanni soll live über seinen Auslandsaufenthalt berichten. Dieses Mal würde er gerne noch Erasmusfreunde einbinden. Warum nicht? Während wir gegen zehn Uhr abends in großer Runde mit kühlen Getränken am Hotelpool sitzen, ruft tatsächlich ein Redakteur aus Italien an. „Now, now, come. And we need girls, Claudia, Britt, come, come!“, ruft Giovanni. Zu zehnt setzen wir uns an einen anderen Tisch, schalten an meinem Handy Skype an und beleuchten das Setting mit Taschenlampen. Für die Italiener ist es das Größte, sich über einer Million Zuschauer und Zuhörer in ihrem Land zu präsentieren und von der Türkei zu erzählen. Wir anderen winken ab und zu und grinsen debil in die Handykamera (hier zu sehen). Ich finde es mutig von dem Sender, eine Liveschaltung mit zehn angetrunkenen Erasmusstudenten im Strandurlaub zu wagen. Es läuft zwar alles ohne große Zwischenfälle, aber als wir am Ende des Interviews im Chor übermäßig laut den Erasmus-Klassiker „Eh Florenci non sa, eh Florenci non sa, che stasera diventa Papa“ anstimmen, versuchen die italienischen Redakteure ganz schnell, das Gespräch zu beenden. „Grazie, Grazie“ hören wir noch und schon wird der nächste Song hochgezogen.


Schäler

Meine Familie kommt zu Besuch nach Istanbul. Einen Tag verbringen wir auf der dritten Prinzeninsel, Heybeliada. Da Autos dort verboten sind, fahren wir mit der Pferdekutsche zu einer Bucht und nehmen eine Auszeit vom lauten und doch manchmal etwas stressigen Stadtleben. Zurück nehmen wir die Fähre, die etwa eineinhalb Stunden fährt. Viele Inselbesucher sind nach dem Sonnentag müde und nicken ein. So auch meine Mutter und meine große Schwester. Da sehe ich ihn schon kommen: Den Obst- und Gemüseschälerverkäufer. Er wuchtet seinen großen Koffer durch die Reihen, stellt ihn direkt auf den Mülleimer neben unserer Bank und fängt lautstark an, seine bunten Obst- und Gemüseschäler anzupreisen. An Zucchini, Ananas und Aubergine zeigt er, wie gut seine Ware funktioniert. Meine Mutter schreckt wegen des türkischen Gebrülls auf, guckt sich kurz irritiert um und kauft dann ganz überzeugt vier Schäler ein. Direkt schlagen auch die türkischen Frauen zu.


Deckenkauf

Nach dem Besuch der Hagia Sophia schlendere ich mit meiner Familie durch das Touristenviertel Sultanahmet. In einem kleinen Stoffladen entdeckt meine Mutter eine schöne Tagesdecke. Feine Muster auf mattem Grün. 950 TL steht auf dem Schild darüber. Das sind mehr als 300 Euro, Wucher. „Handmade from Bursa“, sagt der etwa 40-jährige Verkäufer eilig und breitet die Decke im Laden aus. Ich gucke ihn skeptisch an. „For you 900 Lira“, sagt er. Ich wechsel in die türkische Sprache und sage ihm, dass das ja nicht ernst gemeint sein kann. „For you 800 Lira.“ Die Decke sei zwar schön, aber nicht außergewöhnlich. „For you 700 Lira.“ Sehr freundlich, aber schließlich sei ich Student in Istanbul und ein solcher Preise einfach zu hoch für mich. „For you 500 Lira.“ Meine Mutter fühlt sich sichtlich unwohl und grätscht in die Verhandlung: „Laurenz, das kannst du doch nicht machen. Der ist doch schon so runtergegangen.“ Ich ignoriere sie. Sorry, aber das muss ich alleine regeln. Und fasse noch einmal lustlos die Decke an. Schade, aber dann müsse ich wohl einen anderen Laden suchen, denn mein Budget liege nur bei 200 Lira. „For you 400 Lira.“ Ich danke ihm freundlich und gehe Richtung Ausgang. „300 Lira. Last price“, sagt er. Ich schüttel den Kopf. Er tippt eine Zahl in seinen Taschenrechner ein: 280. Ich nehme den Rechner, lösche die Zahl und tippe 240 ein. „My last price“, sage ich ihm. Keinen Lira mehr. Er muss lachen, nickt und packt die Decke in eine Plastiktüte. Gut gehandelt, lobt er mich. Dann schütteln wir uns die Hände.


Scooter

Am letzten Tag in Fethiye wollen wir uns Scooter und Quads mieten. Wir werden vom Vermieter am Hotel abgeholt und stellen mit acht Leuten im kleinen Pkw einen neuen Beförderungsrekord für die Erasmuszeit auf. Der Anbieter ist der günstigste im Ort und wir zahlen nur 40 TL (13 Euro) für den gesamten Tag Leihgebühr. Allerdings hat nicht jeder seinen Führerschein dabei. Jolien verleiht ihren an Elina und fährt hinten bei Britt mit. Ich habe mir von meinem Mitbewohner ein Foto von meinem schicken lassen, auf dem man wegen der schlechten Handykamera jedoch nicht mal meinen Namen lesen kann. Giovanni hat nicht einmal das, versichert aber charmant, dass sein Führerschein in Italien liegt. Na, wenn das so ist. Der Vermieter nickt alles ab, erkundigt sich dann jedoch: „You all know how to drive scooter?“ – „Yes, yes, of course“, sagen wir und nicken. Vor der Tür gucken sich Justyn und ich an: „Eh, have you ever done it?“ – „No. You?“- „No.“ Auch bei den anderen gibt es wenig Vorerfahrung und so fragen wir doch noch nach einer kleinen Einweisung. Unsere letzte Fahrt sei halt schon etwas länger her. Danach setzen wir unsere Helme auf, heizen auf den Landstraßen und fahren an der malerischen Küste entlang. „Look, I get 83 km/h with my quad!“, ruft Giovanni stolz und überholt auf dem rechten Seitenstreifen ein Auto.


Fastenbrechen

Der Ramadan beginnt. In den Cafés sitzen weniger Menschen, nur selten steigt Zigarettenqualm auf der Istiklal in die Höhe. Abends gehe ich mit Ole, Claudia und Basti zum Fastenbrechen auf den Platz hinter der Sultanahmet Moschee. Hier sind etliche Holztische aneinander gereiht, die Tafeln wirken endlos. Auf den weißen Papiertischdecken stehen bunte Softgetränke und bedeckte Schüsseln mit Essen. Die Türken sitzen nebeneinander auf den Bänken und Stühlen und warten auf den Ruf des Muezzins, der den Startschuss zum Essen gibt. Wir stehen verloren inmitten der sitzenden Muslime, als uns ein Türke anlacht und uns gefüllte Weinblätter anbietet. Wir lehnen dankend ab und warten lieber auch noch die paar Minuten ab. Er sagt, wir sollen uns einfach irgendwohin setzen und uns ein Essenspaket nehmen. Also hocken wir uns auf ein kleines Rasenstück und direkt kommt ein eingeteilter Jugendlicher auf uns zu. Er verteilt Päckchen an uns genauso wie an die Muslime. Darin sind Wasser, Saft, Oliven, eine Dattel, Brot und Baklava. Kurz darauf bekommen wir sogar auch die Schachteln mit Reis, Suppe und Gemüse. Der türkische Mann neben mir auf dem Rasen nickt uns zu und sagt, dass hier jeder willkommen ist, um gemeinsam zu essen. Dann zündet der Bürgermeister auf der Bühne eine Kanone an. Nach dem Knall fängt der Muezzin an zu singen und schlagartig wird es still auf dem vorhin so lauten Platz. Für einige Sekunden ist nur das Aufreißen der Plastikfolien über der Suppe zu hören. Jetzt wird bedächtig gegessen. Nach ein paar Minuten setzen die Gespräche wieder ein, erste Qualmwolken aus Zigaretten steigen auf.


The Erasmus Movie Project

Die Uni veranstaltet ein Orientation Meeting für alle ankommenden Erasmusstudenten in Istanbul. Da sitzen nun also etwa 150 Studenten aus zig verschiedenen Ländern und hören sich die einzelnen Informationsvorträge an. Neben dem offiziellen Part und der Vorstellung des ESN-Programms für das Semester mit Parties und Trips wird auch das „Erasmus Movie Project“ vorgestellt. Eine Dozentin liest einen Text auf französisch runter. Danach übersetzt ein türkischer Journalistik-Student das eben Gesagte; wieder versteht man aber kaum ein Wort und das Movie Project scheint die Menge tatsächlich nicht zu fesseln. Es geht irgendwie darum, die Probleme von Erasmusstudenten in Kurzfilmen darzustellen. Ich sitze außen in der Sitzreihe und kriege als erster eine Liste zum Eintragen für die überreicht, die Lust haben, beim Project mitzumachen. Naja, denke ich mir. Erasmus, Movie Project, Istanbul, neue Leute kennen lernen, da trage ich mich einfach mal ein. Machen sicher einige Studenten mit. Machen sie nicht. Nach dem Orientation Meeting kommt der Journalistik-Student strahlend auf mich zu, stellt sich als Kaan vor und sagt mir, dass er sich wegen des Projects bei mir melden wird. Auf der Liste in seiner Hand steht ein Name: Meiner.

 

Zwei Monate höre ich nichts mehr vom Erasmus Movie Project. Anfang April schreibt mich Kaan bei Facebook an. „Laurenz, u have time on wednesday? Movie Project. You are first actor. We have minibus. And equipment. Will be great.“ Von meiner Rolle als Actor wusste ich noch gar nichts. Hatte eher gedacht, dort als Ideengeber für Probleme von Erasmusstudenten zu agieren. Daher bitte ich ihn erst mal um ein Briefing am Mittwoch. Geht klar. Wir treffen uns an der Fakultät und gehen dann gemeinsam zum Büro eines Uniprofessors in der Maschinenbau-Fakultät. Wie steht denn der Maschinenbau-Professor jetzt zum Erasmus Movie Project vom Journalismus-Studiengang? „Just a friend“, erklärt Kaan. In dem Büro hängen hinter zwei Werkbänken unzählige türkische Musikinstrumente. Dazwischen sitzen der Professor im weißen Kittel, drei Studenten und ein etwa dreißigjähriger Türke, der sich mir als der Regisseur vom Project vorstellt. Er ist selber noch alibimäßig Student und betreibt mit zwei Kumpels eine kleine Filmproduktionsfirma. Der Professor streckt mir einen Sesamring entgegen und sagt: „Eat!“  Ich setze mich aufs Sofa und rede mit Ahmet, dem Regisseur, über das Project. Tatsächlich sollen Erasmusstudenten in Kurzfilmen als Schauspieler mitmachen. „Whose project is it?“, frage ich. „International. European Union“, sagt Ahmet und lacht. Okay, aber wo soll das dann veröffentlich werden? „Social media. Your government will share it. And TV. We will make you famous, you will see.“ Weder kann ich mir vorstellen, dass der Facebook-Account der Bundesregierung einen Kurzfilm zum Thema „Probleme von Erasmusstudenten in Istanbul“ von ein paar Studenten der Istanbul University teilt noch glaube ich, dass das Fernsehen die Clips ausstrahlen wird. Und am wenigsten glaube ich, dass ich damit berühmt werde oder besser damit berühmt werden will. Aber Ahmet ist sympathisch und die Jungs um Kaan, die das Project als studentische Hilfskräfte begleiten, sind auch gut drauf. Also willige ich ein, in einem Film mitzuspielen. Danach unterhalten wir uns über die Musikinstrumente in dem Raum. „Just hobby“ vom Maschinenbau-Professor. Ich versuche mich an der türkischen Version des Violoncellos, scheitere allerdings kläglich. Dann spielt Ahmet ein bisschen E-Gitarre, singt dazu und ich esse den restlichen Sesamring. Wann denn der Drehtag ist, frage ich vor dem Gehen. „We will inform you“, sagt Kaan.

Eine Woche später ist dann Drehtag. Mit der Metro fahre ich zum Atatürk-Flughafen, um dort die anderen zu treffen. Die Story ist mir nicht ganz klar, aber ich soll für den Prolog-Film wohl einen ankommenden Erasmusstudenten in Istanbul darstellen. Und tatsächlich haben wir Permission, mitten im Flughafen zu drehen. Mitten in der Schneise der ankommenden Passagiere. Dort, wo ich vor zwei Monaten also mit Ole, Claudia, Koffer und vielen Erwartungen durch die Schiebetür gelaufen bin, stehe ich nun erneut. Mit einem Koffer, auf dem improvisiert zwei Erasmus-Sticker kleben. Und mit zwei Kameras um mich herum. Orhan filmt von hinten den von mir gezogenen Koffer, Ahmet und Evran stehen mit ihrem Equipment direkt vor den Empfangsschildern. Erst sind die Security-Männer nicht ganz einverstanden, aber als Semhuz ihnen die Permission zeigt, helfen sie, den Ankunftsbereich bestmöglich abzusperren, damit wir drehen können. Istanbuler Geschäftsleute, deutsche Touristen und arabische Großfamilien werden also direkt nach ihrer Ankunft am Flughafen von der Security angeherrscht, doch bitte links in einer Reihe an uns vorbeizugehen. Dann drehen wir noch in der Abflugshalle und vor dem Flughafen. Ein schwarzer Minibus holt uns anschließend ab und fährt mich bis zu meiner Metrostation nach Sishane.

Ich erfahre abends von Kaan, dass wir noch einen Drehtag brauchen. Neues Setting: Der ehemalige und wunderschöne Bahnhof Haydarpasa in Kadiköy auf der asiatischen Seite. Samstag soll gedreht werden. 15 Uhr Treffen am Bahnhof. Ich bin um kurz nach drei da und warte in der Sonne auf die Jungs. Nach einer Stunde ist noch niemand da. Kaan schreibt mir, dass sie im Stau stehen. Nach zwei Stunden ist immer noch niemand da. Zum Glück ist die Sonne aber wunderbar und ich sitze mit einem Cay am Bosporus. Zweieinhalb Stunden nach der abgemachten Zeit biegt dann der Minibus um die Ecke. Kaan kommt mit schlechtem Gewissen auf mich zu: „The traffic, man, sorry. I am so sorry.“ Passt schon, meine ich. Aber ist nicht jedem Menschen schon nach zwei Tagen in Istanbul klar, dass der Traffic besonders ist und man mit dem Auto lange braucht? „Demonstrations, sorry.“ Mit dabei ist noch ein zweiter Actor. Der ist etwa dreißig und ist die türkische Synchronstimme vom Schlaubi-Schlumpf von der Comicserie „Die Schlümpfe“. Er spricht zwar kein Englisch, aber dafür redet er die ganze Zeit mit verstellter Stimme als Schlaubi-Schlumpf. Seine Rolle in dem Film ist mir noch nicht ganz klar. Naja, wir legen los und filmen die Szene, in der ich am Bahnhof ankomme und auf einmal einen Holzkoffer und Saz finde. Früher sind Istanbuls Gäste Passagiere nämlich nicht am Flughafen, sondern am Haydarpasa-Bahnhof angekommen und Ahmet will nach der Ankunft am Flughafen einen Zeitsprung zum „alten“ Istanbul am Bahnhof zeigen. Leider hat sich keiner überlegt, dass die Steckdosen an einem stillgelegten Bahnhof nicht mehr funktionieren könnten und die Jungs diskutieren, wer dafür eigentlich zuständig war. Zum Glück findet sich aber irgendwo noch eine Stromquelle und wir verlegen durch den gesamten Bahnhof Verlängerungskabel. Dann drehen wir die Szene. Ich verstehe allerdings die Regieanweisungen nicht so gut, weil die Filmcrew kein Englisch spricht und Semhuz als Übersetzer unterwegs ist, um Essen zu holen. Ich versuche, Ahmets Anweisungen zu verstehen. „Coook güzel“, ruft Orhan hinter der Kamera nur. „Was it the right face?“, frage ich. „Your face, Laurenz… Al Pacino“, sagt Evran. Und steckt sich wieder seine Ohrstöpsel mit englischer Technomusik ins Ohr. Die Szene ist im Kasten. „Which scenes do we need more?“, frage ich. Es wird langsam Abend und die Sonne steht nicht mehr allzu hoch am Himmel. „One more, you both together. But first food“, erklärt Ahmet. Ich schlage ihm vor, vielleicht erst die letzte Szene zu drehen und danach zu essen, weil die Sonne ja bald untergehen wird. „No worries! No problem, trust me“, sagt Ahmet. In dem Moment kommt auch schon Semhuz mit dem Minibusfahrer und Dürüm und Cola für die gesamte Mannschaft. Wir essen auf den Stufen des Bahnhofs und schauen dem Sonnenuntergang zu. „So, now last scene?“, frage ich nach dem Essen. „Aah, Laurenz, we have problem“, sagt Ahmet, „sun is gone, so we can’t do last scene now.“

Einen Drehtag brauchen wir noch. Dienstag Abend treffen wir uns in Orhans Bude, um die heimischen Vorbereitungen für das Erasmussemester  zu filmen. Zwei Stunden, meint Kaan. Erst wird aber noch Pizza bestellt und gegessen. Die Uni zahlt. Am Ende sind wir dann vier Stunden beschäftigt, aber immerhin sind alle Einstellungen abgedreht. Ich frage, was denn noch mit der Kadiköy-Szene ist, die wir wegen der untergegangenen Sonne nicht drehen konnte. Ist kein Problem, die Story wird einfach etwas umgeschrieben, meint Ahmet.

Freitag morgens laufe ich vom Feiern auf der Istiklal nach Hause. Neben dem Mado-Laden sitzt plötzlich Evran auf einer Treppenstufe und spielt Gitarre. Ich setze mich neben ihn. Er singt türkische Lieder und wir warten gemeinsam, bis die Sonne aufgeht. Dann verabschieden wir uns und ich gehe heim.


Gips

Markus hat sich beim wöchentlichen Kicken den Knöchel angebrochen und darf seine letzten zehn Tage in Istanbul mit einem weißen Gips und auf Krücken verbringen. Er schlägt sich gut auf den hügeligen Straßen der Stadt. Beim ersten gemeinsamen Vortrinken in seiner Wohnung nach dem Unfall wird direkt der Edding gezückt und jeder verewigt sich auf dem Gips. So zieren „Istanbul 2015“, „Buyrun“, „Free Hugs“, ein Eichhörnchen und weitere Zeichnungen sein Bein. Am nächsten Tag gehen wir morgens frühstücken. Auch der türkische Kellner schreibt seine Grüße auf das Weiß. Und später im Krankenhaus unterschreibt noch die österreichische Schwester. „Sowas haben wir früher gemacht, als wir fünfzehn waren. Schöne Sache“, meint sie und wünscht gute Besserung.


Dolmuş

Wenn nachts keine Fähren mehr von Asien nach Europa fahren, sind Dolmuşe die beste Lösung, um auf die andere Seite zu kommen. Ein Dolmuş ist eine Art Sammeltaxi mit fester Route, das erst los fährt, wenn jeder der acht Plätze besetzt ist. Der Fahrer telefoniert, raucht, kurbelt das Fenster runter, kassiert fünf Lira pro Person, gibt Wechselgeld raus, sucht den besten Radiosender, überholt rechts mit Tempo 80 statt 30. Und das alles gleichzeitig.

Wir sind zu elft und wollen nach Essen und Trinken in Asien gegen Mitternacht Richtung Taksim. An der Straße hält ein Dolmuş an. „Get in“, ruft der Fahrer. Wir sind eigentlich zu viele für einen eigenen Dolmuş und in diesem sitzt sogar schon ein älteres Touristenpaar. Die beiden gucken etwas irritiert, als sie merken, dass nun wirklich noch elf Leute zu ihnen in den Wagen klettern und setzen sich vorsorglich auf die Plätze neben dem Fahrer. Wir teilen uns zu elft die hinteren sieben Plätze und fahren jubelnd über die Bosporusbrücke. Kurz vorm Taksim steigt das Pärchen aus. Der Fahrer dreht sofort die Musik auf volle Lautstärke und lässt die LED-Lampen an der Decke blau blinken. Hundert Meter später steigen wir auch aus und laufen zur Istiklal.

 


Safranbolu

An meinem letzten Tag in Istanbul gehe ich noch ein Mal zu meinem Stammorangensaftladen. Dies ist mein letzter, sage ich zum türkischen Verkäufer, der mir fast jeden Tag im vergangenen halben Jahr einen frisch gepressten Orangensaft verkauft hat. Er schaut mitleidig und nimmt einen Notizzettel vom Stapel. „Safranbolu, Karabük, Kalif Caddesi 56, Hamdi“ schreibt er. Wann immer ich mal in Safranbolu bin, soll ich dorthin gehen. „Hamdi, my name“, sagt er lächelnd. Ich frage ihn nach seiner Mail. Er schüttelt den Kopf. Internet nutzt er nicht. Immerhin schreibt er noch seine Telefonnummer unter die Adresse. Eigentlich reicht es aber, wenn ich nach Safranbolu gehe, dort klingel und seinen Namen sage. Dann habe ich dort einen Platz zum Wohnen, meint er. Wir geben uns ein letztes Mal die Hand und sagen auf Wiedersehen.