wood ’n’ stones

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Unterwegs am Bosporus Geschichten aus Istanbul

1. Mai

Tag der Arbeit. Und wie in Deutschland Tag der Demonstrationen. Bereits Mittwoch stehen überall Absperrgitter in der Innenstadt. Freitag sind dann der Taksim und die Istiklal komplett abgeriegelt. Auf Twitter und den Seiten der türkischen regierungsfernen Zeitungen lese ich morgens von schweren Ausschreitungen in Besiktas. Das sind etwa fünfundzwanzig Minuten zu Fuß von meinem Bett. Ich treffe mich mit Tim, wir wollen immerhin in Richtung Istiklal gehen. An jeder Ecke stehen etwa zehn Polizisten. Uns lassen sie auf die Istiklal, weil wir freundlich auf Englisch fragen. Wo sonst um die Uhrzeit Tausende Menschen aneinander vorbei strömen, sieht man nun vereinzelt Touristen mit Rollkoffern, Wasserwerfer und Polizisten. Istanbul ist eine Geisterstadt. Fünf Kellner nutzen den freien Platz und spielen Volleyball auf der Straße. In den wenigen offenen Cafés sitzen ausschließlich Polizisten. Sie gucken gelangweilt auf ihre Handys und trinken Tee. Einen Tag später sind die Gitter weg und auf der Istiklal sind wieder Menschenmassen unterwegs.


Neun-Achtel-Takt

Giulia hat mich bei Facebook zu irgendeinem Event mit über tausend Teilnehmern eingeladen. „What’s this?“ – „A gypsy festival with music.“ Na gut. Nach dem Sprachkurs machen sich Ole, Markus und ich also auf die Suche nach dem Festival in Fatih. Ich zeige zwei Kioskbesitzern die Facebook-Veranstaltung. Alle wissen Bescheid: „Festival? Behind Sultanahmet Cami“. Tatsächlich finden wir es dann. Das gesamte Viertel ist voller Menschen. Jeden Alters. Jeder Nationalität. Niemand kann einen halben Meter unberührt gehen. Die Istiklal an einem Samstag Nachmittag ist dagegen ein einsamer und ruhiger Ort. Alle zehn Meter stehen Kühlschränke, an denen junge Türken Bier verkaufen. Der Duft von Köfte und Sucuk liegt über der Menschenmenge, an den aufsteigenden Rauchwolken lassen sich mittendrin kleine Grills erahnen. Wir ergattern ein Bier und wagen uns in die Menge. Von allen Seiten kommt Musik. Kleine Musikergruppen, meist zwei Männer mit Trommel und einer mit Flöte, bahnen sich ihre Wege durch die tanzenden Menschen und versuchen dabei, möglichst laut zu sein. Das gelingt ihnen. Die Stimmung ist einmalig. In dem Getümmel treffen wir noch ein paar Erasmus-Freunde und gemeinsam mit einigen Türken tanzen wir im Kreis zu den uns fremden Rhythmen. Ein Türke will, dass wir uns auch mal am Schellenkranz versuchen. Markus gibt sein Bestes, aber der Türke will einen besonderen Takt von ihm. „Nine eight“, erklärt er. Markus grinst, schüttelt ein paar Mal den Schellenkranz und gibt ihn dann wieder zurück. „Too difficult.“ Musizieren zu den Rhythmen fällt uns schwer. Rumzappeln und Bier trinken geht aber sehr gut.


Wünsche

Weil sich vor langer Zeit am 5. Mai zwei Propheten getroffen haben, ist in Fatih abends ein riesiges „Gypsy Festival“. Was man sich an diesem Abend wünscht, soll Wirklichkeit werden. Unsicher ist bei uns Erasmusstudenten nur die richtige Art des Wünschens. Liegt auch daran, dass uns jeder Türke etwas anderes erzählt. Zumindest steht auf einem Platz ein kleiner beleuchteter Weihnachtsbaum. Daneben liegen Zettel mit Stiften. Wenn man sich einmal den Weg durch die Menge gebahnt hat, muss man seinen Wunsch zeichnen. Oder aufschreiben? Ich entscheide mich fürs Zeichnen und nutze Markus‘ Rücken als Unterlage. Ein Kunstwerk. Dann hefte ich den Zettel mit einer goldenen Büroklammer an den Weihnachtsbaum. Mittlerweile brennt mitten auf der Straße auch ein Lagerfeuer. Dem Mythos zufolge muss man nach dem Zeichnen drüber springen. Oder davor? Ich springe danach. Auf dem Rückweg unterhalten wir uns über unsere Wunschprozesse. Manche sind erst übers Feuer gesprungen, haben dann den Wunsch aufgeschrieben und reden noch irgendetwas von einer vergrabenen Rosenblüte, die ganz wichtig fürs Gelingen ist. Glaube ich nicht. Wir werden ja sehen, wessen Wünsche wahr werden.


Besuch

Verbringt man als Erasmusstudent mehrere Monate im Ausland, vermisst man bestimmte Speisen oder Getränke aus der Heimat. Deshalb kriegt jeder Besuch im Vorfeld einen klaren Auftrag, was er bitte mitbringen soll. Loris war zwischendurch eine Woche daheim in Frankreich und hat einen eigenen Koffer nur mit Essen nach Istanbul zurückgenommen. Highlight ist eine prachtvolle Schinkenkeule. Daniele hatte vor einer Woche Besuch von seinem Bruder aus Genua, der ihm „wahre“ Pasta, Pesto und Schinken aus Italien mitgebracht hat. Während sich Italiener und Franzosen also Essen aus der Heimat einfliegen lassen, wünschen sich deutsche Erasmusstudenten Alkohol. Der ist hier nämlich teuer.


Aperitif

Weil ihm sein Bruder „richtige“ Pasta und weitere Zutaten aus Genua mitgebracht, lädt Daniele drei italienische Freunde, Markus und mich zum Abendessen ein. Wir sitzen im Wohnzimmer und trinken Wein, während Elina und Giulia sich freuen, endlich „italienisch“ kochen zu können. Elina bringt dann für jeden einen ordentlichen Teller Spaghetti mit Pesto und Parmesan. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie schmeckt es um einiges besser als die Nudeln mit Ketchup, die ich häufig zaubere. Gut gesättigt sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Kurz darauf bringt Elina aus der Küche für jeden einen mächtigen Teller Spaghetti Carbonara. Ich sage, dass ich leider gesättigt bin und ja schon einen großen Teller Nudeln gegessen habe. „No Laurenz, the first was just aperitivo“, sagt Elina erstaunt. Na okay. Mit Markus‘ Hilfe wird mein Teller mit der Hauptspeise dann doch leer. „So, now dessert. Who wants spaghetti polenta?“, fragt Elina.


Wahre Fans

Ismail aus Holland ist großer Fan von Galatasaray Istanbul und überzeugt Ole, Serkan und mich, mit zum Pokalhalbfinale gegen Sivasspor zu kommen. An der Metrostation kaufen Ole und ich noch rot-orangene Schals und bahnen uns dann den Weg durch ein Wohngebiet zur Autobahn, an der das Stadion liegt. Unsere Plätze sind in der dritten Reihe, direkt am Spielfeld. Sivasspor geht unerwartet mit 1:o in Führung. Zehn Minuten später trifft Galatasaray zum Ausgleich. Der einzige Kameramann, der am Spielfeldrand positioniert wurde, steht direkt auf unserer Höhe und dreht die Kamera auf uns. Bilder von jubelnden Fans werden gebraucht. Also reißen wir die Schals in die Höhe und singen. (Das Video sieht man hier -Sekunde 32.) Eigentlich schlagen unsere Herzen ja für Besiktas, aber als Erasmusstudent darf man da nicht so genau sein. Istanbul ist Istanbul.


Sonnencreme

Um auch die Strände an der türkischen Südküste zu sehen, reisen wir als große Erasmus-Gruppe nach Fethiye. Direkt am ersten Tag liegen wir am Strand und schwimmen im Mittelmeer. Während sich die deutschen Studenten jede Stunde eincremen und teils sogar unterschiedliche Cremes mit verschiedenen Lichtschutzfaktoren für verschiedene Körperstellen nutzen, verzichten Italiener und Spanier ganz auf den Sonnenschutz. Giovanni und Florenci sind daher die ersten mit Sonnenbrand. Am nächsten Tag bietet ihnen jemand am Strand Sonnencreme an. Aber: „I never use sun screen. I don’t need it.“


Paragliding

Fethiye ist bekannt als sehr guter Ort für Paragliding. Wir bekommen als große Gruppe einen günstigen Tarif und so sitze ich Freitag Nachmittag mit Erasmusstudenten und Paragliding-Guides in einem vollen Minibus. Gemeinsam fahren wir Serpentinen zum Abflugsort auf 1700 Metern hoch. Mit Tischtennisbällen, auf denen jeweils der Name eines Guides steht, werden wir in Zweierteams gelost. Ich fliege also mit Öner. „Öner?“, frage ich in den Bus. Vorne winkt ein langhaariger Türke mit Sonnenbrille: „Yeah, that’s me. Nice to meet you.“ Perfekt, wir verstehen uns. Florenci unterhält sich auf bei der Auffahrt länger mit seinem Guide, der direkt neben ihm sitzt. Wie oft er pro Tag fliegt, wollen wir wissen. „Actually four times, but today it’s my fifth flight. I woke up at 6 am“, sagt der Guide. Florenci guckt erstmals etwas irritiert. Dann fragt der Guide, wie viel Florenci wiegt. Etwas über 100 Kilogramm. Oh, eigentlich sei 100 Kilogramm die Obergrenze, erklärt ihm der Guide. Ob uns das keiner gesagt hätte. Jetzt guckt mich Florenci entgeistert an. Keine Angst, da passiert nichts, beruhige ich ihn. Habe aber natürlich auch keine Ahnung. Florenci fragt nicht weiter und macht einfach die Augen zu. Oben angekommen gibt es noch eine kurze Einweisung von Öner: „Laurenz. Run if I say run. And then enjoy.“ Er schließt die Karabinerhaken. Dann rennen wir los und gleiten ruhig über den Traumstrand von Ölüdeniz. Nach einer halben Stunde landen wir an der Strandpromenade. Auch Florenci kommt sanft unten an.


Reparatur

Seit drei Wochen ist die Toilettenspülung defekt. Weil der Handwerker immer kurzfristig abgesagt hat, bin ich umso glücklicher, als es Dienstag morgens tatsächlich an der Tür klingelt. Ein etwa 65-jähriger, weißhaariger Türke mit einer Plastiktüte als Werkzeugkoffer in der Hand kommt herein. Mein Mitbewohner erklärt ihm kurz das Problem, muss dann aber los zu einem Termin. Ich biete dem Klempner einen Tee an, den wir gemeinsam im Flur trinken. Dann gehe ich in mein Zimmer, um an einem Essay zu schreiben. Plötzlich höre ich vom Bad das Klicken eines Feuerzeugs. Ich gucke kurz aus dem Zimmer. Im Bad steht der Klempner und schmökert genüsslich eine Zigarette. Da in der Wohnung nicht geraucht werden darf,  versuche ich, ihn auf Türkisch auf den Balkon zu bitten. Als Reaktion bietet er mir auch eine an. Ich schüttel den Kopf und öffne die Balkontür. Er nickt und gemeinsam gehen wir auf den Balkon. Wir blicken auf den Bosporus, unterhalten uns über Hamambesuche und hören Mustafa Sandal. Ab acht Uhr abends darf man dann wieder die Spülung benutzen.


Kiss Kiss

Bevor ich nach Istanbul gekommen bin, war mir eigentlich nur ein türkischer Musiker bekannt. Oder genauer ein türkischer Song. „Kiss Kiss“ von Tarkan. Und gleich in meiner ersten Woche in der Metropole habe ich den Klassiker in jedem Club gehört. Auf einmal lese ich dann bei Facebook, dass es ein Gratiskonzert von Tarkan in Besiktas geben soll. Direkt am Bosporus-Ufer. Wahlkampf auf Türkisch. Wir treffen uns in einer großen Gruppe in Cihangir und laufen dann abends um zehn Uhr Richtung Besiktas. Er soll sogar schon auf der Bühne stehen, ruft ein Italiener und fordert ein höheres Schritttempo. Wir gehen aber entspannt weiter, weil sich die Anzahl echter Tarkan-Fans dann doch in Grenzen hält. Durch einen etwas versteckten Zugang finden wir dann einen Platz in der Menge jubelnder türkischer Jugendlicher und können den mittlerweile über vierzigjährigen Sänger in schwarz-weißem Outfit erkennen. Als Tarkan wenig später „Kiss Kiss“ playback singt, können endlich auch die Erasmusstudenten mitsingen.