Die Uni veranstaltet ein Orientation Meeting für alle ankommenden Erasmusstudenten in Istanbul. Da sitzen nun also etwa 150 Studenten aus zig verschiedenen Ländern und hören sich die einzelnen Informationsvorträge an. Neben dem offiziellen Part und der Vorstellung des ESN-Programms für das Semester mit Parties und Trips wird auch das „Erasmus Movie Project“ vorgestellt. Eine Dozentin liest einen Text auf französisch runter. Danach übersetzt ein türkischer Journalistik-Student das eben Gesagte; wieder versteht man aber kaum ein Wort und das Movie Project scheint die Menge tatsächlich nicht zu fesseln. Es geht irgendwie darum, die Probleme von Erasmusstudenten in Kurzfilmen darzustellen. Ich sitze außen in der Sitzreihe und kriege als erster eine Liste zum Eintragen für die überreicht, die Lust haben, beim Project mitzumachen. Naja, denke ich mir. Erasmus, Movie Project, Istanbul, neue Leute kennen lernen, da trage ich mich einfach mal ein. Machen sicher einige Studenten mit. Machen sie nicht. Nach dem Orientation Meeting kommt der Journalistik-Student strahlend auf mich zu, stellt sich als Kaan vor und sagt mir, dass er sich wegen des Projects bei mir melden wird. Auf der Liste in seiner Hand steht ein Name: Meiner.
Zwei Monate höre ich nichts mehr vom Erasmus Movie Project. Anfang April schreibt mich Kaan bei Facebook an. „Laurenz, u have time on wednesday? Movie Project. You are first actor. We have minibus. And equipment. Will be great.“ Von meiner Rolle als Actor wusste ich noch gar nichts. Hatte eher gedacht, dort als Ideengeber für Probleme von Erasmusstudenten zu agieren. Daher bitte ich ihn erst mal um ein Briefing am Mittwoch. Geht klar. Wir treffen uns an der Fakultät und gehen dann gemeinsam zum Büro eines Uniprofessors in der Maschinenbau-Fakultät. Wie steht denn der Maschinenbau-Professor jetzt zum Erasmus Movie Project vom Journalismus-Studiengang? „Just a friend“, erklärt Kaan. In dem Büro hängen hinter zwei Werkbänken unzählige türkische Musikinstrumente. Dazwischen sitzen der Professor im weißen Kittel, drei Studenten und ein etwa dreißigjähriger Türke, der sich mir als der Regisseur vom Project vorstellt. Er ist selber noch alibimäßig Student und betreibt mit zwei Kumpels eine kleine Filmproduktionsfirma. Der Professor streckt mir einen Sesamring entgegen und sagt: „Eat!“ Ich setze mich aufs Sofa und rede mit Ahmet, dem Regisseur, über das Project. Tatsächlich sollen Erasmusstudenten in Kurzfilmen als Schauspieler mitmachen. „Whose project is it?“, frage ich. „International. European Union“, sagt Ahmet und lacht. Okay, aber wo soll das dann veröffentlich werden? „Social media. Your government will share it. And TV. We will make you famous, you will see.“ Weder kann ich mir vorstellen, dass der Facebook-Account der Bundesregierung einen Kurzfilm zum Thema „Probleme von Erasmusstudenten in Istanbul“ von ein paar Studenten der Istanbul University teilt noch glaube ich, dass das Fernsehen die Clips ausstrahlen wird. Und am wenigsten glaube ich, dass ich damit berühmt werde oder besser damit berühmt werden will. Aber Ahmet ist sympathisch und die Jungs um Kaan, die das Project als studentische Hilfskräfte begleiten, sind auch gut drauf. Also willige ich ein, in einem Film mitzuspielen. Danach unterhalten wir uns über die Musikinstrumente in dem Raum. „Just hobby“ vom Maschinenbau-Professor. Ich versuche mich an der türkischen Version des Violoncellos, scheitere allerdings kläglich. Dann spielt Ahmet ein bisschen E-Gitarre, singt dazu und ich esse den restlichen Sesamring. Wann denn der Drehtag ist, frage ich vor dem Gehen. „We will inform you“, sagt Kaan.
Eine Woche später ist dann Drehtag. Mit der Metro fahre ich zum Atatürk-Flughafen, um dort die anderen zu treffen. Die Story ist mir nicht ganz klar, aber ich soll für den Prolog-Film wohl einen ankommenden Erasmusstudenten in Istanbul darstellen. Und tatsächlich haben wir Permission, mitten im Flughafen zu drehen. Mitten in der Schneise der ankommenden Passagiere. Dort, wo ich vor zwei Monaten also mit Ole, Claudia, Koffer und vielen Erwartungen durch die Schiebetür gelaufen bin, stehe ich nun erneut. Mit einem Koffer, auf dem improvisiert zwei Erasmus-Sticker kleben. Und mit zwei Kameras um mich herum. Orhan filmt von hinten den von mir gezogenen Koffer, Ahmet und Evran stehen mit ihrem Equipment direkt vor den Empfangsschildern. Erst sind die Security-Männer nicht ganz einverstanden, aber als Semhuz ihnen die Permission zeigt, helfen sie, den Ankunftsbereich bestmöglich abzusperren, damit wir drehen können. Istanbuler Geschäftsleute, deutsche Touristen und arabische Großfamilien werden also direkt nach ihrer Ankunft am Flughafen von der Security angeherrscht, doch bitte links in einer Reihe an uns vorbeizugehen. Dann drehen wir noch in der Abflugshalle und vor dem Flughafen. Ein schwarzer Minibus holt uns anschließend ab und fährt mich bis zu meiner Metrostation nach Sishane.
Ich erfahre abends von Kaan, dass wir noch einen Drehtag brauchen. Neues Setting: Der ehemalige und wunderschöne Bahnhof Haydarpasa in Kadiköy auf der asiatischen Seite. Samstag soll gedreht werden. 15 Uhr Treffen am Bahnhof. Ich bin um kurz nach drei da und warte in der Sonne auf die Jungs. Nach einer Stunde ist noch niemand da. Kaan schreibt mir, dass sie im Stau stehen. Nach zwei Stunden ist immer noch niemand da. Zum Glück ist die Sonne aber wunderbar und ich sitze mit einem Cay am Bosporus. Zweieinhalb Stunden nach der abgemachten Zeit biegt dann der Minibus um die Ecke. Kaan kommt mit schlechtem Gewissen auf mich zu: „The traffic, man, sorry. I am so sorry.“ Passt schon, meine ich. Aber ist nicht jedem Menschen schon nach zwei Tagen in Istanbul klar, dass der Traffic besonders ist und man mit dem Auto lange braucht? „Demonstrations, sorry.“ Mit dabei ist noch ein zweiter Actor. Der ist etwa dreißig und ist die türkische Synchronstimme vom Schlaubi-Schlumpf von der Comicserie „Die Schlümpfe“. Er spricht zwar kein Englisch, aber dafür redet er die ganze Zeit mit verstellter Stimme als Schlaubi-Schlumpf. Seine Rolle in dem Film ist mir noch nicht ganz klar. Naja, wir legen los und filmen die Szene, in der ich am Bahnhof ankomme und auf einmal einen Holzkoffer und Saz finde. Früher sind Istanbuls Gäste Passagiere nämlich nicht am Flughafen, sondern am Haydarpasa-Bahnhof angekommen und Ahmet will nach der Ankunft am Flughafen einen Zeitsprung zum „alten“ Istanbul am Bahnhof zeigen. Leider hat sich keiner überlegt, dass die Steckdosen an einem stillgelegten Bahnhof nicht mehr funktionieren könnten und die Jungs diskutieren, wer dafür eigentlich zuständig war. Zum Glück findet sich aber irgendwo noch eine Stromquelle und wir verlegen durch den gesamten Bahnhof Verlängerungskabel. Dann drehen wir die Szene. Ich verstehe allerdings die Regieanweisungen nicht so gut, weil die Filmcrew kein Englisch spricht und Semhuz als Übersetzer unterwegs ist, um Essen zu holen. Ich versuche, Ahmets Anweisungen zu verstehen. „Coook güzel“, ruft Orhan hinter der Kamera nur. „Was it the right face?“, frage ich. „Your face, Laurenz… Al Pacino“, sagt Evran. Und steckt sich wieder seine Ohrstöpsel mit englischer Technomusik ins Ohr. Die Szene ist im Kasten. „Which scenes do we need more?“, frage ich. Es wird langsam Abend und die Sonne steht nicht mehr allzu hoch am Himmel. „One more, you both together. But first food“, erklärt Ahmet. Ich schlage ihm vor, vielleicht erst die letzte Szene zu drehen und danach zu essen, weil die Sonne ja bald untergehen wird. „No worries! No problem, trust me“, sagt Ahmet. In dem Moment kommt auch schon Semhuz mit dem Minibusfahrer und Dürüm und Cola für die gesamte Mannschaft. Wir essen auf den Stufen des Bahnhofs und schauen dem Sonnenuntergang zu. „So, now last scene?“, frage ich nach dem Essen. „Aah, Laurenz, we have problem“, sagt Ahmet, „sun is gone, so we can’t do last scene now.“
Einen Drehtag brauchen wir noch. Dienstag Abend treffen wir uns in Orhans Bude, um die heimischen Vorbereitungen für das Erasmussemester zu filmen. Zwei Stunden, meint Kaan. Erst wird aber noch Pizza bestellt und gegessen. Die Uni zahlt. Am Ende sind wir dann vier Stunden beschäftigt, aber immerhin sind alle Einstellungen abgedreht. Ich frage, was denn noch mit der Kadiköy-Szene ist, die wir wegen der untergegangenen Sonne nicht drehen konnte. Ist kein Problem, die Story wird einfach etwas umgeschrieben, meint Ahmet.
Freitag morgens laufe ich vom Feiern auf der Istiklal nach Hause. Neben dem Mado-Laden sitzt plötzlich Evran auf einer Treppenstufe und spielt Gitarre. Ich setze mich neben ihn. Er singt türkische Lieder und wir warten gemeinsam, bis die Sonne aufgeht. Dann verabschieden wir uns und ich gehe heim.