wood ’n’ stones

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Unterwegs am 淡水河 Geschichten aus Taipei

Übermüdung

In Taipei verbringe ich die ersten zwei Tage in einer Airbnb-Wohnung. Es ist Freitag Nachmittag und ich habe die letzten beiden Nächte wegen der weiten Reise von Phong Nha nach Taipei nicht geschlafen. Müde stehe ich endlich unter der Dusche. Und auf einmal bewegen sich die Shampoo-Flaschen im Duschregal vor mir. Nicht stark, nur ein kleiner Wackler. Aber ausreichend, dass ich meinen aktuellen Geisteszustand hinterfrage. Mein Host klopft etwas später an meine Zimmertür. “There was a small earthquake some minutes ago”, sagt er. Okay, das war also eins. Taipei liegt in der erdbebenreichsten Region der Welt. Schlafen sollte ich jetzt trotzdem.


Frühstücksmusik

In Taiwan kocht fast niemand. Man geht auf die Straße, wenn man etwas essen möchte. Überall gibt es günstige kleine Straßenküchen oder größere Restaurants, das Essen ist nicht sehr teuer. In neuen Wohnungen wird teilweise schon gar keine Küche mehr eingebaut. Also hole ich mir jeden Morgen zwei Brötchen in der kleinen Bäckerei nebenan. Und jeden Morgen läuft hier das Album von Helene Fischer in Dauerschleife.


Mülltonne

Ich stehe neben einem kleinen Park, habe die Reste meines Abendessens und eine leere Bierdose in der Hand und will den Müll direkt los werden. Nach wenigen Metern laufe ich an einem Wohnhaus vorbei, davor stehen zwei Mülltonnen, optimal. Ich stelle die Bierdose auf die Mülltonne und will schon weggehen. Auf einmal ruft irgendjemand etwas auf Chinesisch. Die Stimme kommt aus dem Pförtnerhäuschen, das ich zuerst gar nicht gesehen habe. Ein älterer taiwanischer Pförtner sitzt darin und fuchtelt wild mit den Armen. Okay, vielleicht sollte ich die Bierdose besser in die Mülltonne statt auf die Mülltonne legen. Ich öffne die Klappe und schmeiße die Dose rein. War falsch. Denn jetzt geht’s richtig los, der Pförtner kommt aus seinem Häuschen, flucht auf Chinesisch und wirkt sehr wütend. Ich bin etwas überfordert, weil ich leider überhaupt nicht mit ihm kommunizieren kann. Nachdem er mir erst einmal die Meinung gesagt hat, holt er eine Müllzange und nimmt damit die Bierdose aus dem Mülleimer. Dann öffnet er die andere Mülltonne, schmeißt die Dose rein und schaut mich grimmig an. Er ist nicht mehr ganz so wütend. Und ich achte ab jetzt genauer darauf, wie eine Biotonne in Taiwan aussieht.


Präsentation

Eine Gruppe taiwanischer Schüler kommt zu Besuch ins Goethe-Institut. Sie lernen Deutsch, deshalb halte ich einen kurzen Vortrag über das Leben in Deutschland. Statt trockener Fakten zu Größe, Bildungssystem und politischen Zusammenhängen erzähle ich ihnen von einem typischen Tag eines Studenten in Hannover, zeige Bilder von der Uni, von “Happy Döner” als Stammlokal, von Kiosken und “Limmern” in Hannover und schließlich von der Glocksee. Das ist nun einmal die Lebensrealität eines Studenten. Dann erwarte ich ihre Fragen. Zögerlich melden sich nacheinander drei Schüler. “Wie viel Prozent der Schüler machen in Deutschland Abitur?”, “Was machen Schüler, die kein Abitur machen?”, “Wie lange muss man auf seinen Studienplatz warten?” sind die drei Fragen. Inhaltlich war mein Vortrag also nicht ganz passend konzipiert, niemand interessiert sich für die leckere Cocktailsauce vom besten Dönerladen Hannovers. Naja, zum Schluss macht jeder ein Selfie mit mir.


Lemon Tree

Wegen des Drachenbootrennens gibt es zwei Feiertage und so fliege ich für ein verlängertes Wochenende nach Tokio. Dort treffe ich Alice, die für eine Summerschool in Japan ist. Sie kennt einen deutschen Austauschstudenten in Tokio, zusammen mit ihm und seinen Freunden gehen wir abends in eine Izakaya, eine japanische Kneipe. Wir müssen vorher die Schuhe ausziehen und setzen uns dann an die breiten Holztische. Zum Alkohol wird japanisches Essen serviert, wie Tapas in Spanien. Die Stimmung ist ausgelassen, am Nachbartisch feiern japanische Geschäftsmänner. Nach einem Zwischenstop im Studentenwohnheim landen wir dann in einer Karaoke-Bar. Wir kriegen einen privaten Raum und singen die Klassiker von den Backstreet Boys und Oasis. Am frühen Morgen schläft die Hälfte der internationalen Runde auf den Sofas. Beim Abschlusslied “Lemon Tree” öffnet zumindest der Schwede noch einmal halb die Augen und summt mit. Dann verlassen wir die Gesangshölle und laufen ins Hostel. Die Sonne geht hinter Tokios Wolkenkratzern auf.


Kapsel

In Tokio leben knapp zehn Millionen Menschen auf engem Raum. Daher wird überall versucht, Platz zu sparen. Kapselhotels sind dafür das beste Beispiel. In einem großen Raum ist Platz für 40 Menschen. Das Hostelzimmer für die Nacht ist zwei Quadratmeter groß und gut abgetrennt von den anderen Kapseln. Am Kopfende gibt es eine Steckdose, einen Wecker und eine Lampe. Man kann fast aufrecht sitzen. Optimal für eine Übernachtung. Als ich frühmorgens nach der Karaoke-Nacht den Raum betrete und in meine Kapsel klettern will, gucken aus vielen Kapseln die Füße raus. Andere westliche Touristen sind also auch da.


Überleben

Von Tokio fahren wir nach Fuji-City. Wir wollen hoch auf den Fuji-san. Der Fuji-san ist der Mount Fuji, der größte Berg Japans, ein schlafender Vulkan. Er schläft schon seit über 300 Jahren. Für die Japaner ist der Fuji-san ein Nationalheiligtum. Auf jeder zweiten Wasserflasche in Japan sieht man ihn, in der Metro kommt kaum ein Werbeplakat ohne den perfekten Vulkankegel mit einer verschneiten Spitze aus. Bei WhatsApp gibt es sogar ein eigenes Emoji von ihm. Am kleinen Bahnhof in Fuji-City gehen wir in die Touristeninformation. Wir wollen morgen auf den Fuji, erklären wir der freundlichen Dame hinter dem Tresen. Hm, wir wüssten aber schon, dass der nur im Juli und August offiziell geöffnet ist? Schließlich ist es in den anderen Monaten zu gefährlich, das Wetter ist unvorhersehbar, die Hütten sind geschlossen. Touristen sind sogar schon umgekommen dort oben, sagt sie. Ja, aber wenn, also nähme man einmal an, man würde schon im Juni hochwandern wollen, also wäre das möglich, wie könnten wir zum Startpunkt gelangen, natürlich nur eventuell, wir wollen uns ja erst einmal nur informieren, was gäbe es da für Ideen? Sie empfiehlt uns ein Taxi, nutzt dabei aber weiterhin sorgfältig den Konjunktiv: Also wenn man das machen würde, was sie natürlich nicht empfehlen würde, dann könne man mit einem Taxi dieses Unternehmens dort hochfahren. Dies sei die Nummer für Touristen, die das wirklich machen wollten. Wir sind glücklich, bedanken uns und wollen wieder gehen. „Take care, guys! And please, if you really do that, come to me afterwards. Please!“, ruft sie uns hinterher, wohl dann doch mit der Erkenntnis, dass sie gerade zwei nicht allzu erfahrenen Wanderlustigen den Weg zum geschlossenen Fuji-san gezeigt hat.

Am nächsten Morgen kommt um 6:30 Uhr das Taxi, um 7:30 Uhr sind wir am Startpunkt und um 12:30 Uhr blicken wir vom Gipfel auf 3776 Metern Höhe bis zum Meer. Wir sind über den Wolken, fallen uns erschöpft in die Arme und snacken mitgebrachten Sushi. Der Weg ist zwar lang, aber keinesfalls gefährlich. Am nächsten Tag fahren wir wieder zurück nach Tokio. Am Bahnhof in Fuji-City gehen wir noch kurz in die Touristeninformation. Als die Schiebetür aufgeht, guckt uns unsere japanische Helferin erleichtert an. „You did it! I am so happy you survived!“, ruft sie mit einem leichten Hang zur Übertreibung. Ihr Beschützerinstinkt setzt sofort wieder ein, als sie meinen Sonnenbrand sieht. „You have to use after sun lotion!“, rät sie mir. Mache ich. Wir verabschieden uns und gehen zum Zug.


Nackt

Nach den Anstrengungen der Wanderung wollen wir am nächsten Tag in einem Onsen entspannen. Da das ganze Land auf vulkanischem Gebiet liegt, entspringen überall heiße Quellen (auf japanisch Onsen). Also fahren wir mit dem Zug in den Hakone-Nationalpark und dann mit dem Bus zu einem traditionellen Onsen im Freien. Der Onsen ist nach Geschlechtern aufgeteilt, es wird nackt gebadet. Alice und ich verabschieden uns am Eingang und schon zeigt mir ein älterer Japaner den Weg zum Umkleideraum. Wobei Umkleideraum der falsche Ausdruck ist, denn schließlich sind ja eh alle nackt und es ist vielmehr ein offener Auskleideraum. Er versucht, mir auf Japanisch und mit vielen Gesten den Badeablauf und die einzelnen Becken zu erklären. Ich verstehe gar nichts und laufe direkt in den Körpertrockner, weil ich ihn mit der Dusche verwechsle. Der japanische Bademeister kommt wieder zu mir, murmelt etwas auf Japanisch und bringt mich zu den Duschen. Ich bin der einzige Tourist im Onsen. Dann setze ich mich in eines der heißen Becken zu den japanischen Männern, lege mir wie sie ein kleines Handtuch mit kaltem Wasser auf den Kopf und fühle mich wie in einer Badewanne. Nach einer Stunde verlasse ich die Becken und stehe wieder im Körpertrockner. Dieses Mal ist es aber richtig so.


Männer-WG

Nach zwei Wochen in einer Übergangswohnung wird endlich das Zimmer in meiner Wunsch-WG frei. Meine Wunsch-WG ist es nicht wegen der Mitbewohner, denn die kenne ich noch gar nicht. Meine Wunsch-WG ist es eigentlich nur wegen des eigenen Kühlschranks im Zimmer. Als ich der Vermieterin bei der Besichtigung überglücklich erzählt habe, dass ein Kühlschrank im Zimmer ein Kindheitstraum von mir sei, hat sie mich etwas irritiert angeguckt und ich habe direkt versucht, meine kindische Freude zu zügeln. Die Zimmer werden wegen der ständig wechselnden Bewohner nur einzeln vermietet, WG-Castings gibt es nicht. Jetzt ist Montagabend und ich höre Stimmen im Flur, die Mitbewohner sind also da, dann mal vorstellen und gucken, wer hier sonst noch lebt.

Da wären: Ramez, ein French Lebanese aus Paris, der als Praktikant bei einem französischen Dessert-Startup arbeitet, das Crème brûlée und Macarons in Taiwan populär machen will, Igor aus Moskau, der Chinesisch lernen und eine Gesangskarriere beginnen möchte, Jerry aus Virginia, der zwar schon seit zweieinhalb Jahren da ist, aber nicht genau erklären kann oder will, was er in Taipei eigentlich macht, und ich, ein Deutscher in einer türkisen Flamingo-Badehose. Als erste WG-Aktion bringen wir gemeinsam den Müll raus.


Schulbesuch

Lin, eine studentische Hilfskraft im Goethe-Institut, unterrichtet jeden Freitag an einem Gymnasium Deutsch. Da die letzte Stunde vor den Sommerferien ansteht, fragt sie mich, ob ich nicht mitkommen will, um Fragen zu Deutschland zu beantworten. Klar. Also stehe ich vor 15 taiwanischen Schülern, stelle mich kurz vor und erzähle ein bisschen über die Institution “Kiosk” und die Europameisterschaft. Lin hatte den Schülern die Aufgabe gegeben, zu Hause Fragen an mich aufzuschreiben. Auf dem Zettel des Mädchens in der ersten Reihe steht eine einzige Frage: “Willst du ein Foto mit mir machen?”