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Unterwegs am 淡水河 Geschichten aus Taipei

Mitternachtsschlaf

In Frankreich wird die Europameisterschaft ausgespielt. Und ich bin nicht in Europa. Ich bin nicht nur nicht in Europa, sondern ich bin in Taiwan. Für Fußball interessiert sich hier niemand, Baseball und Basketball sind viel populärer. Das wäre an sich gar kein Problem, denn dank der klugen Vermarktungsstrategie der UEFA gibt es auch hier Fernsehprogramme, die die EM übertragen. Und ARD und ZDF bieten sowieso Livestreams an. Das Problem ist nicht das Wie, sondern das Wann. Taiwan ist Mitteleuropa sechs Stunden voraus: Deutschland spielt gegen Polen um 21 Uhr in Frankreich und um 3 Uhr in Taiwan. So stelle ich mir den Wecker auf 2:50 Uhr, um rechtzeitig vom Mitternachtsschlaf aufzuwachen. Ich muss mich überwinden, aber pünktlich um 2:55 Uhr sitze ich vor dem Laptop und die Mannschaften laufen ein. Das Spiel ist unglaublich langweilig, bietet kaum Torszenen und endet 0:0. Nach dem Schlusspfiff klappe ich den Laptop sofort zu und lege mich wieder hin. Vor dem Fenster zwitschern schon die Vögel.


Wette

Wochenende, Zeit für einen Ausflug, Taiwan ist so groß wie Baden-Württemberg, jeder Ort ist schnell zu erreichen. Ramez und ich fahren Freitagabend mit Katharina und Nora aus dem Deutschen Institut nach Hualien an die Ostküste. Hualien ist sehr klein und Ausgangspunkt für Touren in den Taroko Nationalpark. Wir mieten uns am nächsten Morgen Scooter und heizen über die Insel, rechts liegt das Meer, links die bewaldeten Berge. Dann halten wir an und wollen für eine Stunde wandern gehen. Weil die Sonne scheint, klappen wir die Sitzfläche der Scooter hoch, damit später nicht die von der kurzen Hose unbedeckte Hautfläche des Oberschenkels brennt. Nach vierzig Minuten fängt ein heftiges Gewitter an. Wir sind zwar schon auf dem Rückweg, aber befürchten durchnässte Helmfächer. Katharina wettet dagegen. Taiwaner sind so freundlich, die haben die Klappen sicher zugemacht, meint sie. Wir anderen drei wetten dagegen. Wer kümmert sich denn bitte darum, dass die Helmfächer von zwei fremden Scootern trocken bleiben? Abends kriegt Katharina drei Bier ausgegeben.


WG-Gemeinschaft

Um Mitternacht ist Anpfiff vom EM-Achtelfinale Italien gegen Spanien. Ramez und ich fahren mit dem Taxi zum “Beer & Cheese House”, einer der wenigen Bars in Taipei, die mitten in der Nacht Fußball zeigen. Auf einmal merken wir, dass am Nachbartisch unser Mitbewohner Jerry aus Virginia sitzt. Er ist schon völlig betrunken und stößt fröhlich mit uns an. Wir sind nun seit fünf Wochen Mitbewohner. Wir sind noch nicht die besten Freunde, aber wir sind Mitbewohner. Nach dem Abpfiff wollen wir zu dritt ein Taxi nehmen. Also Jerry will erst einmal noch gar nicht, er will noch in der Bar bleiben und läuft hinter die Theke, um sich ein Bier zu zapfen, aber die Barkeeper schaffen es schließlich, den letzten verbliebenen Gast vor die Tür zu schieben. Ramez setzt sich direkt nach vorne, Jerry und ich sitzen auf der Rückbank. Auf einmal zündet er sich neben mir genüsslich eine Zigarette an. Der Taxifahrer bleibt zum Glück entspannt, er atmet nur einmal tief durch. Dann tickt mich Jerry von der Seite an. “Hey man, are you also as tired as me?”, lallt er mir ins rechte Ohr. Joa, ich bin auch schon ziemlich müde, sage ich. Jetzt starrt mich Jerry an. “Man”, ruft er laut, “man, where do you actually live?” Ramez muss vorne schon laut lachen, ich versuche mich zusammenzureißen und antworte: “Next door, man… Actually, I am your flatmate.” Jetzt ist es ganz kurz still im Taxi. “Well…”, sagt Jerry, “this conversation went awkward.” Dann mustert er mich noch einmal irritiert, schweigt und lässt sich vor einem McDonald’s raussetzen.


Viertelfinale

Deutschland trifft im Viertelfinale der Europameisterschaft auf Italien. Um 3 Uhr morgens taiwanischer Zeit ist Anstoß. Gegen 1 Uhr fahre ich mit dem Fahrrad durch die Stadt zur Bar. Aus einem Club torkelt schon ein vollbesoffener Taiwaner zum Taxi. Dann erreiche ich das “On Tap”, es ist schon eineinhalb Stunden vor Anpfiff gefüllt mit deutschen Fans. Und von Minute zu Minute werden es mehr. Einige bringen sogar Trikots und Fahnen mit. Die Nationalhymne wird kräftig mitgeschmettert, danach setzen die Fangesänge ein. Beim Elfmeterschießen bangen alle mit Hector und Neuer – und liegen sich danach jubelnd im Arm. Als ich nach dem entscheidenen Elfmeter aus der Bar gehe, ist es 6 Uhr morgens und die Sonne steht schon am Himmel. Seit ein paar Minuten fährt sogar die Metro wieder.


Taifun

Von „Nepartak“ höre ich zum ersten Mal am Dienstag im Büro. „Nepartak“ ist der Taifun, der sich gerade auf dem Pazifik bildet und immer stärker wird. Auf der Webseite der staatlichen Wetterbehörde kann ich genau angucken, wann und wo der Taifun auf die Insel treffen wird. Donnerstag Abend soll es soweit sein. „Nepartak“ ist außen grün-blau und innen rot. Also auf dem eingefärbten Satellitenbild. Tatsächlich erreicht der Taifun am Donnerstag mit 250 km/h Taiwan, an der Ostküste ist bereits arbeits- und schulfrei. Für Donnerstagabend habe ich noch einen Filmabend im Goethe-Institut organisiert, „Wunder von Bern“, Start um 18 Uhr, noch hat der Taifun Taipei nicht erreicht, das Event kann also steigen. Die Teilnehmerzahl liegt bei drei. Einer davon bin ich und ein anderer kommt eine halbe Stunde zu spät. Nach dem Film kriege ich von einer Kollegin die Nachricht, dass am nächsten Tag die Arbeit ausfällt. „Pass auf dich auf und bleib zu Hause“, schreibt sie. Okay, dann sollte ich wohl noch mal zum Supermarkt gehen. Den Gedanken hatte nicht nur ich. Der PX-Markt sieht aus wie ein Supermarkt vor der drohenden Apokalypse in einem amerikanischen Actionfilm: Links neben dem Eingang ist das Obstregal bis auf eine halbe Wassermelone leer, im Kühlregal daneben liegt keine einzige Fleischpackung mehr. Ich gehe weiter und stehe vor dem Instant-Nudeln-Regal: Leer. Bis auf eine pinke Packung „Instant Noodles Mushroom Pork Flavor“. Ich nehme noch eine der letzten Wasserflaschen dazu und stelle mich ans Ende der Schlange, die durch den ganzen Laden reicht. Zu Hause liegen eh noch drei Snickers.


Stau

Meine Schwester besucht mich in Taiwan, gemeinsam umfahren wir die ganze Insel. In Hualien düsen wir morgens mit dem Scooter zum Taroko Nationalpark. Der Baiyang-Wasserfall ist das Ziel. Dieser liegt am Ende der einzigen Straße, die durch die Schlucht des Nationalparks führt. Doch auf einmal bildet sich Stau, Reisebusse und Familienautos stehen vor einem provisorischen Absperrungszeichen, Informationen gibt es keine. Einen anderen Weg zum Wasserfall gibt es nicht, also warten Antonia und ich in der Sonne. Nach einer Stunde kommt eine Taiwanerin in Signalweste vorbei und nimmt das Absperrungszeichen zur Seite. Wir fahren los und sehen noch ein paar Bauarbeiter am Straßenrand stehen. Kurz danach erreichen wir den Wasserfall, er ist wunderschön, das Warten hat sich gelohnt. Dann müssen wir wieder zurück, unser Zug nach Taipei fährt in zwei Stunden. Aber der Weg sollte ja jetzt frei sein. Ist er nicht. Nach fünf Minuten Fahrt winkt uns ein Bauarbeiter und stellt dann ein Absperrungszeichen auf die Straße. Als erste stehen wir nun im Stau. Und sehen dieses Mal, warum: Zehn Meter vor uns liegt ein riesiger Felsbrocken auf der Straße, den die Bauarbeiter mithilfe eines Baggers routiniert zur Seite schieben. „This is normal here“, erzählt uns die Scooterfahrerin neben uns. Zwanzig Minuten später können wir weiter fahren, das Absperrungszeichen steht wieder an der Seite. Und jetzt fahren wir nicht nur wegen unserer Zugtickets schneller als sonst durch die Schlucht.


Transitbereich

Nach drei Monaten in Asien ist der Tag des Rückflugs gekommen. Antonia und ich fliegen abends nach Peking. Nach vier Stunden Aufenthalt um 2:30 Uhr nachts wollen wir von dort den Flieger Richtung Frankfurt nehmen. Sie hat sogar noch Geburtstag, also stoßen wir im koreanischen 24-Stunden-Nudel-Restaurant an. Der Flughafen, immerhin der zweitgrößte der Welt, ist fast komplett leer, unser Flieger ist der letzte der Nacht. Sollte zumindest der letzte der Nacht sein. Denn als wir um 1 Uhr die Computeranzeige checken, steht da statt 2:30 ein 9:00. Sicher ein Scherz, denken wir, da hätte es doch eine Durchsage gegeben. Der Infoschalter ist geschlossen, im Duty Free Shop steht einsam eine Verkäuferin an der Kasse. Und an der Sicherheitskontrolle stehen noch zwei Männer. Beide sprechen kein Englisch, zeigen aber auf eine Rolltreppe hinter einer Glastür, auf der „Staff only“ steht. Antonia und ich fahren gespannt hoch und ja, oben stehen noch etwa hundert andere Passagiere, Deutsche und Chinesen, völlig übermüdet, auf ihren Anschlussflug wartend und ahnungslos. Nach zehn Minuten kommt ein kleiner Chinese in einem weißen Hemd zu uns, telefoniert hektisch, sammelt dann unsere Flugtickets und Pässe ein und ruft drei Sätze auf Chinesisch. Wir verstehen nichts. Dann schickt er uns gestenreich zur Passkontrolle, wo wir nach Flugtickets und Pässen gefragt werden. Die haben wir aber ja nicht mehr. Im ganzen Chaos gehen einfach ein paar Passagiere an der Kontrolle vorbei, was besonders im einreisestrengen China natürlich nicht unbedingt gewünscht ist. Alle müssen also zurück, bekommen dann ihre Pässe wieder und erhalten ein 72-Stunden-Visum für die Volksrepublik. Und nun? „Take the tram to the other terminal and then go to a woman with glasses“, ruft der mittlerweile stark schwitzende Chinese im weißen Hemd. Woman with glasses, kann man ja gar nicht verfehlen. Zum Glück ist der Flughafen so leer, dass wir die Dame tatsächlich finden. Sie begleitet uns zu Reisebussen, mit dem wir dann zehn Minuten lang durch das nächtliche Peking fahren. An einem Hotel werden wir rausgelassen und checken in Doppelzimmer ein. Es ist 3 Uhr nachts. „At 5:30 there is breakfast. And at 6 the bus goes back to the airport“, ruft der Rezeptionist. Der kürzeste Hotelaufenthalt meines Lebens. Mit zwei anderen Deutschen gucken wir Turmspringen der Olympischen Spiele und unterhalten uns, dann gibt es ja schon wieder Frühstück. Um 6 Uhr sitzen dann alle wieder in den Bussen zum Flughafen. Der rote Stempel der Volksrepublik ist im Pass, nach China muss ich wohl aber trotzdem noch einmal wiederkommen.

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