wood ’n’ stones

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Unterwegs am 淡水河 Geschichten aus Taipei

Jackpot

Kevin und ich fliegen zusammen nach Vietnam. Wir fahren mit dem Zug von Hannover zum Flughafen in Frankfurt. Erledigen dort alles ohne Schwierigkeiten: Check-In, Sicherheitskontrolle, Weg zum Gate, Burgeressen, letzter Toilettengang, Ticketprüfung, Busfahrt über das Vorfeld. Dann laufen wir endlich zum Flugzeug, einer riesigen Maschine von Etihad Airways. Drei Sitzreihen nebeneinander, unzählige Sitzreihen hintereinander. Wir finden unsere Plätze, staunen über die luxuriöse Ausstattung mit Steckdosen am Sitz und stellen unsere Handys in den Flugmodus. „Jetzt geht’s los“, imitieren wir nacheinander einen Kirmesansager und lachen voller Vorfreude auf die beginnende Reise. Der Flieger startet, wir sind in der Luft. Da fängt Kevin an, unruhig auf seinem Sitz umherzurutschen. Er fasst sich an den Hintern und hat dann Gewissheit: In diesem riesigen Flugzeug hatte er das Ticket für den Platz mit einem benutzten Kaugummi reserviert, das nun hinten an seiner Hose klebt. Ein holpriger Start. Unserer Stewardess ist der Vorfall wie auch Kevin eher unangenehm. Sie bietet ihm einen Schnaps an. Kevin lehnt dankend ab. Kurz vor der Landung kommt sie dann noch einmal zu uns und überreicht Kevin einen edlen Stoffsack mit einer Karte. „Sie hatten heute ja den Jackpot-Platz. Enschuldigen Sie bitte vielmals“, steht darauf. Im Stoffsack ist ein schwarzer, langärmliger Baumwollschlafanzug in XXL mit einem Etihad-Airways-Schriftzug. Kevins Kleidergröße ist S und ein schwarzer, langärmliger Baumwollschlafanzug ist nicht gerade der beste Begleiter für seine dreimonatige Backpacking-Tour durchs tropische Südostasien. Hätte er mal lieber den Schnaps genommen.


Ankunft

Wir nehmen unsere Koffer vom Rollband und essen jeder zwei Kinderriegel, bevor sie schmelzen. Es ist zwar Nacht in Vietnam, aber wir schwitzen trotzdem nach den ersten zehn Schritten durch Saigon. Mit dem Taxi fahren wir zum Hotel, in einem Strom aus Mopeds. Rechts, links, vorne, hinten – überall Mopeds. Manchmal sitzt eine ganze Familie auf einem Moped: Kind hinter dem Lenker, dann der Vater, dann das zweite Kind, dann die Mutter. Der vietnamesische Golf. Wir beziehen unser Zimmer in einem billigen Hotel am Rande des Backpacker-Viertels und setzen uns dann auf den Balkon einer Bar. Neben uns sitzen schon die klassischen männlichen Backpacker. Zu erkennen an zum Dutt hochgebundenen Haaren, einem weit ausgeschnittenen Tanktop, sehr langen Achselhaaren, Flip Flops und einer Graswolke über dem Kopf. Wir essen Reiscurry und trinken Saigon Bier. Jetzt sind wir auch Backpacker. Obwohl wir noch nicht so aussehen.


Aufwachen

Die Reise führt uns von Mũi Né nach Hội An. 14 Stunden im Nachtbus. Eigentlich sind die Liegen sehr komfortabel, gut gepolstert und breit genug. Allerdings haben sich die Konstrukteure bei der Entwicklung an den Körpermaßen von Vietnamesen und nicht an denen von europäischen Backpacker-Touristen orientiert, sodass mir Ausstrecken leider nicht möglich ist und mein halber Hinterkopf über die Liege ragt. Irgendwie lässt es sich dann doch für ein paar Minuten schlafen. Morgens um sieben wache ich auf, noch etwa eine halbe Stunde bis Hội An. Während der Rest im Bus noch versucht zu schlafen, schaltet der Co-Busfahrer zum ersten Mal den Fernseher im Bus ein. Ich frage mich, ob er jetzt ernsthaft noch einen Film anfangen will. Nein, er navigiert sich durch das Menü zur Musikauswahl, schraubt die Lautstärke nach ganz oben und entscheidet sich dann für “Around the World” von Aqua. Ich wusste gar nicht, dass die außer “Barbie Girl” noch einen anderen Song gemacht haben. “I’ve been around the world – hey, hey, I’ve been around the world – hey, hey” dröhnt es aus den Buslautsprechern. Alle Mitreisenden wachen verwirrt auf, gucken sich um und wundern sich, wie denn Barbie und Ken auf einmal nach Zentralvietnam kommen.


YouTube

In Hội An steigen wir morgens aus dem Nachtbus aus. Mit Hiroaki aus Japan, der in Mũi Né gemeinsam mit uns eingestiegen ist und mit dem wir ein kurzes „Hello, what’s your name, nice to meet you“ ausgetauscht haben, verabreden wir uns für ein Bier am Abend. Hiroaki ist aus Kyoto. Er reist zur Zeit mit seiner Gitarre und einem Cowboy-Hut durch Südostasien, um YouTube-Videos von seinen Coversongs zu machen. Okay, dann muss der ja eine Nummer sein, denke ich. Er zeigt mir seinen Channel auf dem Handy. Das höchstgerankte Video hat 133 Aufrufe.


Veteran

Am Nachbartisch in der Bar von Hội An sitzt ein älterer, tätowierter Mann und trinkt alleine ein Heineken mit Eiswürfeln. Ohne dabei aufs Smartphone zu gucken oder Zeitung zu lesen. Ich setze mich zu ihm, während Kevin sich noch mit Hiroaki unterhält. Der ältere Mann stellt sich als Jack aus Australien vor. Er war 1967 das erste Mal in Vietnam, erzählt er nach ein paar Minuten und dämpft dabei die Stimme. Moment, 1967? Ja. Er war mit 19 als Soldat in Vietnam. In einer achtköpfigen Underwater-Truppe. Für vier Jahre. Mittlerweile organisiert er die Verschiebung von Ölplattformen im Pazifik für Unternehmen wie Shell. Er hat in Vietnam unter anderem seine Frau besucht. “Okay, so then you are often in Saigon?”, frage ich ihn. “No, I have many wifes”, sagt er und lacht so, dass dafür die Beschreibung “dreckig lachen” erfunden werden musste. Zwei in Thailand, eine in Vietnam und eine in Cairns, Australien, wo er wohnt. Insgesamt hat er sieben Kinder. Wissen die Frauen voneinander? “Hmmm, no.” In Cairns besitzt er außerdem einen Campingplatz für Backpacker, erzählt er. Und bestellt sich dann das nächste Heineken.


Pommes

Am Hostelpool in Phong Nha sitzen wir abends in einer Runde mit Holländern, Österreichern und Australiern. Ein Holländer erzählt gerade von seiner Angst, mal von einem Delfin vergewaltigt zu werden. Die Runde wechselt stetig, irgendwann sind zwei Israelis, Yoni und Amit, mit dabei. Wir unterhalten uns über Reiserouten und israelische Musik. Nach einiger Zeit setzt sich ein weiterer, komplett besoffener Backpacker zu uns an den Tisch. Statt sich kurz vorzustellen, bestellt er sich eine riesige Portion Pommes mit Mayo und schaufelt sich die Fritten wie unter Zeitdruck in den Mund. In einer Essenspause kriegt er mit, dass zwei Israelis am Tisch sitzen. “So you are from Israel? Guess which country I’m from”, sagt er und blickt die Israelis herausfordernd an. “Hm, Egypt”, meint Yoni. Falsch. Da den Israelis das Raten unangenehm ist, sagt der Pommes-Backpacker, dass er aus Palästina kommt. “Where are you from in Israel?”, fragt er weiter, die Pommes verlieren an Bedeutung. “Close to Gaza”, sagt Yoni. “What the fuck do you want there? Go to Haifa!”, brüllt der Palästinenser auf einmal. Es wird komplett still am Tisch, der Palästinenser und die zwei Israelis blicken sich an. Da steht Amit auf, streckt ihm die Hand entgegen und sagt: “Hey, my name is Amit.” Der Palästinenser schüttelt die Hand und sagt: “Ahmed.” Die Gespräche am Tisch gehen weiter. Kurz darauf steht Ahmed auf, nimmt seinen halbvollen Pommesteller und verlässt den Tisch.


Bahnhof

„Der Taxifahrer vor der Tür konnte ganz offensichtlich kein Russisch lesen, ich hielt ihm den Zettel hin, er lachte und sagte ‚Njet‘. Ich ahmte eine Dampflokomotive nach, die auf Gleisen langsam in einen Bahnhof einfuhr und mit laut quietschenden Bremsen zum Halten kam. Der Taxifahrer lachte noch mehr, sagte dann ‚Train Station‘ und ‚Twenty Dollars‘, ich stieg ein und wir brausten los”, erzählt Christian Kracht in “Der gelbe Bleistift” aus Baku.

Martin hatte mir vor der Abreise Krachts Reisegeschichten aus Asien geschenkt. Ich lese die Geschichte nachts im Hostel in Phong Nha. Am nächsten Morgen muss ich selber zum Bahnhof, nicht zu dem in Baku, sondern zu dem in Dong Hoi. Es ist 9 Uhr, in einer Stunde kommt mein Zug. Ich gehe zu einem kleinen Gemüseladen, frage nach der “Train Station” und denke dabei an Kracht. Die Verkäuferin versteht kein Wort, schüttelt den Kopf. Noch 55 Minuten. Ich gehe weiter zu einer Art Kiosk. Das Besitzerehepaar versteht “Train Station” zwar auch nicht, weckt aber die Tochter im zweiten Stock, die wohl Englisch sprechen kann. Die etwa Zehnjährige ist überhaupt nicht erfreut, dass sie wegen eines planlosen Touristen nicht mehr schlafen darf. Vielleicht liegt es daran, vielleicht versteht sie mich wirklich nicht – auch sie schüttelt nur den Kopf und geht direkt wieder in ihr Bett. Noch 45 Minuten. Ich frage einen Taxifahrer. “Train Station?” Er schaut mich teilnahmslos an und fährt weg. Noch 40 Minuten. Letzte Option: Kracht. Ich gehe zu einem älteren weißhaarigen Mann vor einem Café und imitiere einen Zug. “Tuff tuff… whoop whoop… uftata uftata…”, das volle Programm, alle Geräusche, die mir entfernt zu einem Zug einfallen, dazu Handbewegungen, die bei genauerer Überlegung nicht mal entfernt mit einem Zug zusammenhängen. Und endlich, bei meinem gleichmäßigen “Tuff…tuff…tuff…tuff” nickt er und stimmt mit ein, gemeinsam stehen wir vor dem Café und imitieren eine gewaltige Dampflokomotive. Er zeigt mir gestikulierend den Weg und ich laufe los. Vietnam ist eben nicht Aserbaidschan. Und ich bin nicht Christian Kracht.


Girlfriend

Auf der Reise von Phong Nha nach Taipei habe ich einen Aufenthalt von sechs Stunden in Đà Nẵng. In dem Ort, in dem im März 1965 die ersten amerikanischen Soldaten ans Ufer gegangen sind, um in den folgenden Jahren einen erbarmungslosen Krieg zu führen. Ich fahre mit dem Taxi zum Strand. Es ist nichts los, erst gegen Abend kommen die vietnamesischen Familien dazu. Ich sitze auf meiner Liege und lese die Reisegeschichten aus Asien von Christian Kracht, die Martin mir mitgegeben hat. Auf einmal steht ein vietnamesisches Mädchen, etwa 17 Jahre alt, neben mir: “Where are you from? How do you like Vietnam? Where do you go?” Dann fragt sie, ob ich nicht Lust hätte, für 500.000 Dong an einem Ballon, der an einem Motorboot befestigt ist, über das Wasser zu schweben. Habe ich gerade nicht. “Do you need a girlfriend?”, fragt sie als nächstes. “No, thank you”, antworte ich. “Okay. Thank you, bye”, sagt sie und geht. Ich lese weiter.


WG gesucht

Über eine taiwanische Wohnungsplattform habe ich eine WG-Besichtigung kurz nach meiner Ankunft organisiert. Ich treffe mich also nach einer Bus- und Metro-Reise vom Flughafen mit Mario in Dingxi. Mario ist Slowake und lernt in Taiwan Chinesisch. Erst vor Kurzem hat er einen Job als Englischlehrer gefunden und kann daher bis auf Weiteres in Taiwan bleiben. Er habe nämlich in erster Linie ein Faible für asiatische Frauen, erzählt er. Alles klar, was mich aber viel mehr interessiert, ist, warum er aus der recht passabel aussehenden WG auszieht, obwohl er ja in Taiwan bleibt. “Hm, well, the landlord is not too friendly, she is living in the flat as well and yeah, for me it’s better to leave”, druckst Mario rum. Sollte ich mir vielleicht noch mal gut überlegen mit der Wohnung. Auf dem Weg zum 7/11 treffen wir dann auf einmal einen Honduraner mit großformatiger Fliegerbrille, der Mario kennt. Und zwar hat der nämlich vor Mario in der WG gelebt. “So, where did you meet guys?”, fragt Carlos. Mario erzählt, dass ich eventuell sein Nachmieter werden könnte. Wie war denn sein Verhältnis mit der Vermieterin, frage ich den Honduraner. Carlos lacht und fragt: “So, Mario, you want to leave the flat and get the deposit back or you want to be nice to that German guy?” Ist natürlich für den Mario jetzt keine ganz angenehme Situation. “Of course, I want to be nice”, sagt er. Und dann erzählt Carlos, dass die Vermieterin jeweils zu viel Geld eingezogen habe, menschlich nicht auszuhalten sei und einen ausländischen Studenten nach dem anderen aus der Wohnung gejagt habe. Ich danke Carlos. Meine Wohnungssuche werde ich wohl fortsetzen.


Skype

Carlos aus Honduras, den ich zufällig bei meiner Wohnungssuche kennengelernt habe, lädt mich direkt auf ein Wasser in seine Wohnung ein. Ich bin vor zwei Stunden erst gelandet, direkt soziale Kontakte knüpfen, die guten Spots erfragen, klar, ein stilles Wasser nehme ich gerne. Wir unterhalten uns ein bisschen über Taipei. Er erzählt mir, dass er schon seit einem Jahr hier studiert und in einer Woche das erste Mal wieder nach Honduras fliegt. Ich lade mein Handy auf, wir trinken Wasser. Dann ruft seine Freundin aus Honduras per Skype an, die beiden unterhalten sich auf Spanisch. Carlos erzählt ihr, dass er vor 20 Minuten einen Deutschen kennengelernt hat. Er dreht den Laptop und ich winke auch einmal in die Kamera. “Hi, I am Laurenz from Germany”, stelle ich mich kurz vor. “Carlos is already looking forward to come to you next week”, sage ich und sehe, wie Carlos gegenüber die Augen aufreißt und einen Finger hektisch über die Lippen legt. Auch seine Freundin in Honduras guckt mich verwirrt an. Ups, der Besuch sollte also eher eine Überraschung sein. Sorry. Carlos dreht den Laptop sofort wieder um, meine Gesprächszeit ist abgelaufen. “No problem”, sagt Carlos bei der Verabschiedung. Aber ganz glücklich darüber, dass ihm ein deutscher, verschwitzter Typ, den er soeben auf der Straße kennengelernt hat, seine romantische 1-Jahres-Überraschung innerhalb von einer Minute zerstört hat, wirkt er auch nicht. Ich schreibe ihm ein paar Tage später noch mal, ob wir ein Bier trinken wollen. Carlos antwortet nicht.

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