wood ’n’ stones

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Unterwegs am Bosporus Geschichten aus Istanbul

Granate

Markus, Ole und ich fliegen Anfang Juni gemeinsam nach Trabzon, mieten uns dort am Flughafen ein Auto und fahren dann eine Woche lang durch Nordostanatolien. Nach einer Nacht in Bayburt erreichen wir Erzurum, mit 370.000 Einwohnern die größte Stadt der Umgebung. Wir hatten uns zuvor schon ein Hostel ausgesucht, die Zugangsstraße wird aber von der Polizei gesperrt. Also versuchen wir, von der anderen Seite durchzukommen. Auch dort stehen zwei Polizisten und schicken alle Autos wieder zurück. Ich erkläre einem der beiden, dass wir zum Hotel Ipek möchten. Er meint, dass wir eine Seitenstraße nehmen können. Wir biegen links ab und fahren durch eine enge und heruntergekommene Gasse. Hier sind wir das einzige Auto und stranden auf einmal in einer erregten Menschenmenge. Jugendliche verhüllen ihre Gesichter mit Tüchern, halten Baseballschläger und Holzplanken mit Nägeln in den Händen. Steine liegen auf dem Boden. Und mittendrin sitzen wir. Drei deutsche Erasmusstudenten mit schwarzen Sonnenbrillen im weißen Citroen-Leihwagen. Aus den Boxen kommt ein Duett von Kanye West und Rihanna. Schnell machen wir unsere Fenster hoch. Ich versuche, das Auto langsam durch die aggressiv wirkenden Menschen zu steuern. Es gelingt. Wir kommen wieder auf die Straße, die zum Hostel führt und die eigentlich von der Polizei abgeriegelt ist. Ha, sind wir ja einfach an der Sperrung vorbeigefahren, freuen wir uns. In der Sekunde fliegen zwanzig Meter vor uns Steine über die Straße, Menschen rennen panisch auf unser Auto zu, ein Wasserwerfer verfolgt ihren Weg, Polizisten schießen mit Tränengas. „Oh, lass mal besser umdrehen“, sagt Ole. Vergeblich versuche ich zu wenden. Plötzlich fliegt eine kleine schwarze Gasgranate unter unseren Wagen und explodiert. „Ole, mach die Klimaanlage aus!“, brüllt Markus von hinten. Das Tränengas findet durch die Lüftungsschlitze langsam seinen Weg ins Auto. Ole drückt jeden Knopf auf der Mittelkonsole, aber nicht den zum Ausschalten der Klimaanlage. Wir halten unsere Shirts vors Gesicht, der Reiz ist sofort spürbar. Markus navigiert mich durch die hektisch rennenden Menschen in eine kleine Nebenstraße und wir finden einen Weg raus aus dem Chaos, vorbei an einem brennenden weißen Transporter. Mittlerweile hat Ole den richtigen Knopf für die Klimaanlage gefunden. Aus den Boxen kommt noch immer Rihannas Stimme. Wir wählen ein Hostel am anderen Ende der Stadt, parken das Auto und trinken literweise Tee in einem Hinterhof.

(Erzurum ist nationalistisch-konservativ geprägt. An dem Tag, drei Tage vor der Wahl, war in Erzurum eine Wahlkampfveranstaltung der pro-kurdischen Partei HDP, auf der auch Spitzenkandidat Selahattin Demirtas geredet hat. Hierzu kamen etwa tausend Faschisten, um nationalistische Parolen zu skandieren und die HDP-Versammlung gewalttätig anzugreifen. Die Polizei ist eingeschritten. Es kam zu mehreren Auseinandersetzungen und einem Todesfall: http://www.hurriyet.com.tr/gundem/29192158.asp)